Herwarth Walden und der „Verein für Kunst“.

Einführung zur Dokumentation.

Die vorliegende Dokumentation ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weder vollständig noch fehlerfrei; sie nähert sich aber der historischen Realität ein Stück weiter an, als dies in den bisherigen Zusammenstellungen der Fall gewesen ist(1).
Von 1904 bis 1912 macht sich der Verein für Kunst (V.f.K.) als Organisator von ca. 100 Veranstaltungen mit Schriftsteller*innen (nicht nur schöner Literatur), mit Vorträgen, Kompositions- und Tanzabenden im Berliner Kulturleben einen Namen. Danach geht die Geschichte des V.f.K. im Verborgenen noch einige Jahre weiter, ehe er 1919 mit zwei weiteren Unternehmungen des „Sturm“ in der Gesellschaft der Sturmfreunde aufgeht.
Der V.f.K. durchläuft mehrere Entwicklungsphasen: In seiner ersten, den drei Spielzeiten 1904/05 bis 1906/07, steht er für Walden, zu allen Zeiten Spiritus rector des Unternehmens, eindeutig im Vordergrund. Programmplanung und -durchführung entsprechen einander weitgehend; es gibt nur wenige, eher kleinere Abweichungen vom geplanten Programmschema.
In dem Maße, in dem Walden weitere Aktivitäten neben dem V.f.K. parallel startet (zunächst zur Saison 1906/07 mit der Organisation der Programmarbeit des Berliner Goethe-Vereins), wird die Verbindlichkeit der angekündigten Programme geringer.

Ein paar Hinweise auf das rastlose Schaffen Waldens in jenen Jahren seien erlaubt: 1907/08 Zusammenarbeit mit Oskar Fried in dessen neu gegründeter Gesellschaft der Musikfreunde, Anfang 1908 Übernahme der Schriftleitertätigkeit für „Das Magazin“, September 1908 Übernahme der Schriftleitertätigkeit für „Morgen“, ab Januar 1909 Schriftleiter von „Der Neue Weg“, ab September 1909 Schriftleiter von „Das Theater“.
Dabei erfolgt die Trennung von den Zeitschriften-Verlegern in keinem Fall einvernehmlich und endet zumeist in gerichtlichen Auseinandersetzungen. Im März 1910 folgt dann die Gründung des „Sturm“, der eigentlich „Der Komet“ heißen sollte, aufgrund von Namensgleichheit mit einer anderen Zeitschrift auf diesen Namen jedoch verzichten muss. Spätestens ab Frühjahr 1912 tritt dann die Tätigkeit als Galerist bei Walden in etwa gleichberechtigt an die des Zeitschriftenherausgebers. Der V.f.K. hat zu diesem Zeitpunkt seine Bedeutung weitgehend eingebüßt.

Daneben stehen die Tätigkeiten, die Walden ausübt, um den Lebensunterhalt für sich und seine Frau (zunächst Else Lasker-Schüler, ab 1912 dann Nell Walden) zu verdienen: Klavierunterricht(2), das Verfassen von Opern-Wegweisern (1907/08) oder Klavierbearbeitungen von Instrumentalmusik(3).

Es steht ganz außer Frage, dass sowohl das private Leben der Waldens als auch seine Tätigkeiten als Organisator im Kulturbetrieb von Beginn an finanziell defizitär gewesen sind. In den Briefen von Autor*innen, die im V.f.K. gastiert oder eben auch nicht gastiert haben, wird mit schöner Regelmäßigkeit deutlich, dass Walden finanzielle Vereinbarungen mehr als nur manchmal nicht hat einhalten können. Briefe, in denen Autor*innen Restzahlungen einfordern oder nur bei Vorabzahlung (zumindest Akontozahlung) zusagen, sind keine Seltenheit(4). Die Briefe an Walden in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz sprechen eine klare Sprache.

Wir sind an dieser Stelle bei einer Grundeigenschaft Waldens angelangt: Er ist zeitlebens ein Hasardeur gewesen. Solange Projekte sich in einem wenn auch nur labilen Gleichgewicht befinden, schreitet Walden voran – ein Scheitern wird offiziell nie eingestanden, sondern bestenfalls in privaten Schreiben an Vertraute kundgetan. „Das Gesamtdefizit betraegt ca. 10.000 Mark“, heißt es in einem Schreiben Waldens an Karl Kraus vom 11. Februar 1910(5). 20 Jahre später wird es dann nicht mehr nur um das Defizit bei einem Projekt gehen, sondern um Waldens bürgerliche Existenz; doch das ist eine andere Geschichte.

In einer finanziell prekären Situation befindet sich Walden zweifellos ab der Jahreswende 1908/09. Noch bis Anfang 1909 finden die Veranstaltungen in aller Regel so statt, wie sie in „Morgen“ ab September 1908 angekündigt werden; nach dem 4. Februar jedoch findet bis zum Ende der Spielzeit nur noch ein V.f.K.-Abend statt – mit Else Lasker-Schüler, Waldens damaliger Frau.
Ob für diesen Bruch fehlende Finanzmittel und/oder (auch) die Demission als Schriftleiter von „Der Neue Weg“ mit den sich daran anschließenden Turbulenzen verantwortlich gewesen sind, ist aus heutiger Sicht nicht mehr zu klären.

Danach gibt es keine mittelfristigen Programmvorschauen mehr; und die Zahl der Veranstaltungen verringert sich auf eine einstellige Anzahl pro Jahr, bis der V.f.K. im Frühjahr 1912 seine Tätigkeit klammheimlich einstellt. Bei den letzten Veranstaltungen bleibt unsicher, ob sie überhaupt noch oder, wenn es sie denn gegeben hat, als V.f.K.-Veranstaltungen stattgefunden haben.
Für diese letzte Phase ist eine Besonderheit zu notieren: Der V.f.K. entwickelt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter dem Einfluss der engen Kontakte zu Karl Kraus, eine deutlich erkennbare Wiener Note: Abgesehen von Eduard Stucken und Friedrich Naumann kommen alle weiteren Vortragenden der Saison 1909/10 aus Wien (die Schauspielerinnen Elsa Galafrés und Lia Rosen sowie Karl Kraus und Adolf Loos); dies ist ein deutlicher Beleg für das zwischen dem V.f.K. und dem Wiener „Verein für Kunst und Kultur“ bestehende „Kartell-Verhältnis“(6).

Einen Einblick, in welch desaströser finanzieller Lage sich Walden mit dem V.f.K. (und nicht nur mit ihm, sondern seiner gesamten beruflichen Existenz) befindet, geben Waldens Briefe an Karl Kraus – eine Fundgrube für alle, die mehr über Waldens ständigen Kampf ums Überleben erfahren wollen, wiederholte Bitten an Kraus um finanzielle Unterstützung inbegriffen.
Zwei Beispiele:
„…Sie haben ja indessen die Aufstellung des V[ereins] f[ür] K[unst] erhalten und sehen, was ich in den sechs Jahren auszustehen hatte. Die verschiedene Höhe der Ausgaben ergiebt sich aus der Größe und dem Preis der Säle. Ferner hatte ich in früheren Jahren Autoren feste Honorare zugesichert, die auf die übliche Art -Gewinnbeteiligung- nicht eingingen und die ich der Vollständigkeit und aus anderen Gründen nicht glaubte, auslassen zu dürfen. Von dem Defizit sind 1000 Mark durch Spenden gedeckt c. 5000 Mark habe ich persönlich gezahlt und der Rest c. 3000 Mark steht noch offen. Durch die Aufstellung habe ich selbst erst ganz genau Klarheit geschaffen. …“
[Herwarth Walden an Karl Kraus. 14.2. 1910; in: Feinde in Scharen, a.a.O. [Anm. 3], S. 160 f]
„Ich will im nächsten Winter nur fünf Abende geben, und zwar, um die Institution zu dokumentieren.“
[Herwarth Walden an Karl Kraus 15.4.1910; in: Feinde in Scharen, a.a.O., S. 214]

Abgesehen von einer einzigen weiteren Veranstaltung im Februar 1914 ruht die eigentliche Tätigkeit des V.f.K. ab 1912. Walden wandelt den Verein bald nach dem Beginn seines Engagements für die moderne bildende Kunst zu einem Kunst-Förderverein um, ehe der V.f.K. 1919 unter anderem Namen („Gesellschaft der Sturmfreunde“) und anderer Aufgabenstellung zu einem wichtigen Teilstück im „Sturm“-Imperium wird – vor allem dann in den 20er Jahren als wichtige Finanzierungshilfe für das in Schieflage geratende Gesamt-Unternehmen „Sturm“.

Die Mitgliederzahlen des V.f.K. sind den (fast) jährlich erscheinenden Ausgaben von Kürschners Deutscher Literatur-Kalender zu entnehmen, in dem der V.f.K. erstmals 1909 gelistet wird.
In den Jahren, in denen er ein aktives Programm vorhält, beträgt die Mitgliederzahl (jeweils nach eigenen [unbestätigten] Angaben) zwischen 250 und 300; 1916 sind es dann 140 und 1917 wieder 200(7) – kein Vergleich zu den Zahlen, mit denen ab der Mitte der 20er die „Gesellschaft der Sturmfreunde“ aufwarten kann: 1926 und auch noch 1932 wird deren Mitgliederzahl mit 3.000 angegeben.

Die vorliegende Zusammenstellung unternimmt den Versuch einer möglichst vollständigen Dokumentation der Veranstaltungen des V.f.K. Ansatzpunkt ist eine Äußerung, die Walden in einer Gegenkritik zu den (überwiegend) Verrissen der Aufführung von Ossip Dymows „Irrwege“ im Mai 1911 tätigt, nach der der V.f.K. 95 Veranstaltungen zwischen 1904 und eben 1911 präsentiert habe(8).
Diese Zahl kann als realistisch gelten: Die Dymow-Aufführung firmiert in der vorliegenden Dokumentation als laufende Nummer 93.
Es ist angesichts dieser (kleinen) Differenz nicht unwahrscheinlich, dass es Veranstaltungen gegeben hat, die sich einer Erfassung bislang entzogen haben – bei einer (hier lfd. Nr. 36) kann dies als sicher gelten, da es einen zeitlichen Rahmen für sie gibt: Für den 8. Abend der Saison 1906/07, der nach dem 30.11.1906 und vor dem 24.1.1907 stattgefunden haben muss, gibt es (noch) keinen Beleg; er fehlt auch in der über die Tagespresse kommunizierte Zählung der Abende.
Es ist allerdings auch möglich, dass die Wiederholungen einiger Abende (hier mit dem Zusatz „a“ versehen: lfd. Nrr. 29a, 32a, 67a, 87a) V.f.K.-intern zumindest teilweise in die Nummerierung eingeflossen sind.

Die Arbeiten an diesem Projekt sind also zwar weit vorangeschritten, allerdings sicher auch noch nicht abgeschlossen.

Es ist der Versuch unternommen worden, den Gründen für das Nicht-Stattfinden von Veranstaltungen auf die Spur zu kommen. Einer der Gründe liegt zweifellos in der teils allzu optimistischen Annahme Waldens, dass Interessensbekundungen von Autor*innen einer Zusage gleichzusetzen sind. Nicht wenige der Veranstaltungsprojekte haben sich zerschlagen, meist aus finanziellen Gründen.

Hochspannend auch unter diesem Gesichtspunkt ist das Binnenverhältnis zwischen den Abenden des V.f.K. und denen des Berliner Goethe-Vereins. Für beide hat Walden in den Spielzeiten 1906/07 und 1907/08 für die Programmplanung und -durchführung verantwortlich gezeichnet(9). Eine Darstellung der Aktivitäten Waldens für den Goethe-Verein steht noch aus(10). Es kann allerdings heute schon festgestellt werden, dass die von Walden für V.f.K. und Goethe-Verein verpflichteten Künstlerinnen und Künstler in den Saisons 1906/07 und 1907/08 nicht selten identisch waren: etwa Rudolf Blümner, Alfred Döblin, Hanns Heinz Ewers, Betsy Schot. Oder sie stammten aus dem Umfeld Waldens, wurden aber nur für den Goethe-Verein und nicht den V.f.K. verpflichtet (etwa Salomo Friedlaender, Frida Izchak, René Schickele). Hier hat die bisherige Forschungsliteratur in einzelnen Fällen falsche Zuordnungen getroffen(11), oder aber die Künstler selbst haben sich in ihren Erinnerungen getäuscht(12).

Die Dokumentation arbeitet zur besseren Veranschaulichung mit Farbsymbolen, die die Aufzählung und Beschreibung der einzelnen Veranstaltungen ergänzen.
Folgende Farben werden verwendet:

Weiterführende Informationen zum V.f.K.

Veranstaltungen, für die Programmhefte nachgewiesen sind

Veranstaltungen, die nicht stattgefunden haben

Auswärtige Veranstaltungen des V.f.K. bzw. Parallelveranstaltungen

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Wilhelmshaven, im Dezember 2023

Anmerkungen:

  1. „Verein für Kunst“. In: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. Hg. von Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1998, S. 465–469
    Veronica Grodzinski: French Impressionism and German Jews. The Making of Modernist Art Collectors and Art Collections in Imperial Germany 1896-1914. Vol. I.II.
    Diss. University College London, 2005.
    https://discovery.ucl.ac.uk/id/eprint/1444726/1/U592035.pdf
    Irene Chytraeus-Auerbach: Herwarth Waldens frühe Aktivitäten: Networking im Namen des „Verein für Kunst“. In: Der Aufbruch in die Moderne. Herwarth Walden und die Europäische Avantgarde. Hrsg. von Irene Chytraeus-Auerbach und Elke Uhl. Berlin: LIT-Verlag, 2013.
    S. 13-34.
    An die Seite der Überblicksdarstellungen sind einige Darstellungen getreten, die sich mit einzelnen Autor*innen und ihrem Verhältnis zum V.f.K. beschäftigen; dazu zählen u.a.:
    Sylke Kirschnick: Tausend und ein Zeichen: Else Lasker-Schülers Orient und die Berliner Alltags- und Populärkultur um 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007. S. 156 f
    [Kapitel II.8. Die frühen Vortragsabende Else Lasker-Schülers in Berlin]
    Klaus-Wolfgang Niemöller: Arnold Schönberg und Herwarth Walden; in:
    Wiener Musikgeschichte. Annäherungen – Analysen – Ausblicke. Festschrift für Karl Krones. Wien [u.a.]:Böhlau, 2009. S. 415-427
    Angela Rammstedt: René Schickele zum Verein für Kunst in Berlin und Simmels Vortrag
    über Stil; in: Simmel Studies. Jg. 16. 2006. Bd. 1, S. 93-105 ↩︎
  2. Ab 1904 firmiert Walden im Berliner Adressbuch offiziell als „Direct. e.
    Conservatoriums“, verortet in seiner jeweiligen Wohnung (Eintrag bis 1908). Wesentlich später, im Deutschen Musiker-Lexikon (1929, Sp. 1518), bezeichnet Walden sich als Klavierlehrer seit 1910 – zweifellos ein Schreib- oder Setzfehler; 1901 dürfte der Wahrheit entsprechen. ↩︎
  3. Ab 1904 firmiert Walden im Berliner Adressbuch offiziell als „Direct. e.
    Conservatoriums“, verortet in seiner jeweiligen Wohnung (Eintrag bis 1908). Wesentlich später, im Deutschen Musiker-Lexikon (1929, Sp. 1518), bezeichnet Walden sich als Klavierlehrer seit 1910 – zweifellos ein Schreib- oder Setzfehler; 1901 dürfte der Wahrheit entsprechen. ↩︎
  4. Beispielsweise lässt Walden bei Jakob Wassermann zwei Termine für die Zahlung des Honorars verstreichen. Im Fall von Oskar Bie, der einen Teil des vereinbarten Honorars vorab einforderte, wird der Vortrag offiziell nur verschoben (ohne neuen Termin); er findet de facto wegen der Nichterfüllung dieser Forderung jedoch im Rahmen des V.f.K. nicht statt. Der zuvor freundschaftliche Kontakt zu Hanns Heinz Ewers endet in Klagen des Autors gegen Walden wegen nicht gezahlter Honorare. ↩︎
  5. „Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein“. Karl Kraus – Herwarth Walden Briefwechsel 1909-1912. Hrsg. von George C. Avery. Göttingen: Wallstein, 2002. S. 158 (Nr. 225) ↩︎
  6. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1909. 31. Jahrgang. Leipzig: Göschen, 1908. Sp. 12 ↩︎
  7. Die erneute Zunahme der Mitgliederzahl dürfte durch die neu begonnene Veranstaltungstätigkeit („Sturm-Abende“) erklärbar sein. ↩︎
  8. Trust [d.i. Herwarth Walden]: Furchtbar dräut der Erbfeind; in: Der Sturm Jg. 2 (1911/12). Nr. 63 vom 25. Mai 1911, S. 500 ↩︎
  9. In Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1909 [vgl. Anm. (6)] mit Stand Dezember 1908 sowie in der Ausgabe 1910 mit Stand Dezember 1909 wird Walden noch als Vorstand des Goethe-Vereins geführt. ↩︎
  10. Eine Dokumentation der Veranstaltungen des Goethe-Vereins ist in Vorbereitung; sie wird, sofern ein wissenschaftlich vertretbarer Forschungsstand erreicht ist, auf der Website https://sturm-baukasten.de abgelegt. ↩︎
  11. Etwa im Fall von Hanns Heinz Ewers bei Wilfried Kugel (Der Unverantwortliche. Düsseldorf: Grupello Verlag, 1992) ↩︎
  12. Salomo Friedlaender erinnert sich in „Ich (1871-1936). Autobiographische Skizze“ (Bielefeld: Aisthesis Verl., 2003) an einen Ewers-Abend des V.f.K., für den er die Einleitung sprechen sollte (ebda, S. 70). Bei diesem Abend hat es sich sicher um einen Abend des Goethe-Vereins gehandelt. ↩︎

Download Einführung zur Dokumentation

Download Abende des „Vereins für Kunst“