Schlichtkrull, Wilhelm (bis ca. 1922)
Schlichtkrull, Thomas (ca. 1925-1930)
Schlichtkrull, Thomas W. (ab 1930)
eigentlich Schlichtkrull, Wilhelm August
* 15. Juni 1902 in Hamburg
† 13. September 1950 St. Paul.de Vence (Département Alpes-Maritimes)
ꝏ 1928 (Datum NN) auf dem Standesamt Altona mit der aus Hamm/Westf. am 3.7.1904 gebürtigen Lilo (Doris Liese Lotte) Schlichtkrull (geb. Noelle); † 14.6.1988 in Saint-Paul-de-Vence
Eltern:
Vater: Johannes Carl Friedrich Schlichtkrull (* 4. Mai 1861 Hamburg; † 30. Mai 1938 Hamburg)
Erste Ehefrau: Martha Eddelbüttel (* 5. Dezember 1862 Eppendorf, Hamburg † 5. September 1909 Hamburg)
Zweite Ehefrau: Hilda Wilhelmine Minna Leser (* 2. Juni 1893 Hamburg; † 19. April 1956 Hamburg)
Geschwister:
Friederike Schlichtkrull (* 24. August 1887 Hamburg; † 16. September 1969 Stellingen)
Ehepartner: Julius Unkel (* 20. August 1886 Haag, Hohenlohekreis; † 5 September 1952 Heidelberg)
Paula Schlichtkrull (* 19. September 1888 Hamburg; † 28. Mai 1976 Hamburg)
Elisabeth Schlichtkrull (* 2. April 1890 Hamburg; † 23. Februar 1957 Hamburg)
Ernst Friedrich Schlichtkrull (* 5. August 1891 Hamburg; † 23. März 1969 Mallorca)
Ehepartnerin: Toni Johanna Marie Pauline Dennhardt (* 23. Februar 1894 Hamburg; † 20. Januar 1965 Hamburg)
Anna Schlichtkrull (* 5. November 1892 Hamburg; † 18. Oktober 1963 Hamburg)
Ehepartner: Fritz Christian Hermann Leidner (* 27. Mai 1889 Hamburg; † 12. September 1976 Hamburg)
Marie Schlichtkrull (* 31. Januar 1901 Hamburg; † 29. Juli 1901 Hamburg)
Kurt Günther Max Schlichtkrull (aus der zweiten Ehe des Vaters; * 24. Juni 1923 Hamburg; † April 1943 im Krieg verstorben)
Schlichtkrull besucht die Realschule (später: Oberrealschule; heute Bismarck-Gymnasium) in der Hamburger Bogenstraße, die er Ostern 1918 mit der Obersekundareife abschließt. Dem Abschlusszeugnis(1) ist zu entnehmen, dass er zu diesem Zeitpunkt beabsichtigt, Volksschullehrer zu werden. Das deckt sich mit den Erinnerungen von Schlichtkrulls späterer Frau, nach denen er ein Lehrerseminar besucht habe, ohne es allerdings abzuschließen – vermutlich in Hamburg; dort ist er bis 1926 nachgewiesen.
1919, noch als 16-Jähriger, veröffentlicht Schlichtkrull in fast jeder Ausgabe Dichtungen im „Sturm“. Er wird von Walden ziemlich offensichtlich als legitimer Nachfolger August Stramms aufgebaut(2). Die Veröffentlichungen im „Sturm“ enden jedoch schon nach kurzer Zeit mit dem Septemberheft 1919:
Lothar Schreyer hält Walden in einigen Briefen vom Oktober 1919 auf dem Laufenden, dass Schlichtkrull sich der „Kräfte“-Gruppe um Kinner von Dresler zugewandt habe und damit für den „Sturm“ verloren sei(3). In einem weiteren, knapp zwei Wochen später (14.10.1919) folgenden Brief wird Schreyer noch deutlicher: „Der Fall Schlichtkrull ist sehr bedauerlich. Wenn wir Kunst sehen, fallen wir eben immer wieder auf Menschen herein.“ (nach Chadzis; vgl. Anm. 3).
Es ist nicht auszuschließen, dass Schreyer in Schlichtkrull einen unliebsamen Konkurrenten um die Position des „Sturm“-Kronprinzen witterte, eine Entwicklung, die von ihm mit deutlichem Missvergnügen verfolgt und gegenüber Walden auch deutlich thematisiert wird(4).
Schlichtkrull bindet sich tatsächlich an die von Kinner von Dresler in Hamburg herausgegebene Zeitschrift „Kräfte“ und publiziert im dritten und letzten Heft der „Kräfte“ seine expressionistische Dichtung „Tasten“(5). Auch diese Annäherung kann nur als kurzfristig bezeichnet werden: Ein geplanter Schlichtkrull-Abend der „Kräfte“-Gruppe kommt nicht mehr zustande, ebenso wenig erscheint der von Schreyer im Brief an Walden vom 1.10.1919 erwähnte Novellenband bei den „Kräften“. „Kräfte“ scheitert am Missverhältnis von unzureichend vorhandenen finanziellen Ressourcen und (allzu) ambitioniertem künstlerischen und verlegerischen Programm; bereits Ende 1919 ist „Kräfte“ wieder Geschichte. Schlichtkrulls kurze expressionistische Phase endet wenig später mit der Veröffentlichung von zwei Gedichten in der der Jugendbewegung zuzurechnenden Zeitschrift „Wende. Blätter vom Werden und Wesen“(6).
Auch wenn Schlichtkrulls expressionistische Phase nicht viel länger als ein Jahr andauert, wird er auch außerhalb Deutschlands wahrgenommen: In einem Aufsatz des Jahres 1920 wird der Gedichtband „Beli plamenovi“ [„Weiße Flammen“] des kroatischen Autors Josip Kosor (1879-1961) im Vergleich zu der Dichtung von Dobriša Cesarić (1902-1980) stilistisch in deutlicher Nähe zum Expressionismus des „Sturm“ (Wilhelm Schlichtkrull) gesehen – Schlichtkrull kann hier als Referenzdichter des „Sturm“ gelten(7).
Schlichtkrull bleibt in der ersten Hälfte der 20er Jahre aktiv im Hamburger Kulturleben – zu seinem Umfeld zählen etwa „Laban, die Luksche [Andreas und Peter], … Hamanns, Frau Brulez, Rodewald, Erika Gütermann, Eva Arnheim, die Falk-Schwestern, Herbert Liszt, Alports – Stuckenschmidt und Lewalter am Klavier“(8). Wenn sein Name in den frühen 20er Jahren genannt wird, dann als Akteur im kurzlebigen Kabarett „Die Jungfrau“(9) und bei Hamburger Künstlerfesten: So ist er etwa Herausgeber des Festalmanachs für das Künstlerfest „Der Schellfisch“ (1925), erfindet sich als „das ‚dämonische Baby‘ Thomas Schlichtkrull“ in Anlehnung an einen amerikanischen Kinderstar der frühen 20er Jahre(10), oder er zeichnet verantwortlich für die „Revue“ anlässlich der „Schwarzweiß Redoute“(1926).
Ab der Mitte der 20er Jahre schreibt Schlichtkrull Feuilletons für deutschlandweit renommierte Zeitungen, beginnend (ab 1925) mit der Frankfurter Zeitung(11).
In der zweiten Hälfte der 20er Jahre lebt Schlichtkrull in Berlin; eine Anekdote über eine Wohngemeinschaft mit Joachim Ringelnatz in der Köthener Straße(12) sowie Berichte über die von Schlichtkrull in Alleinregie verfasste, produzierte und vertriebene Zeitung „Mein Wort. Erste geistige Äußerung für Gewaltlosigkeit und Freiheit von Kohle und Maschine! Die einzige Zeitung Europas, die der Herausgeber als Zeitungsjunge auf der Straße verkauft“(13) sind sichere Belege dafür.
In einem Schreiben von Schlichtkrulls späterer Frau vom 14. Mai 1961(14) ist von einem Philologie-Studium in Berlin die Rede (bislang keine weiteren Nachweise). Parallel zum Studium arbeitet er als Korrespondent für eine spanische im Silberbergbau tätige Aktiengesellschaft (Minas Maria Teresa in Fuenteovejuna)(15).
Schlichtkrull beherrschte zwölf Sprachen (u.a. Englisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch) und war zeitlebens als Sprachlehrer, Übersetzer, Dolmetscher und Korrespondent tätig.
Hamburg dürfte Schlichtkrulls Basis auch in der zweiten Hälfte der 20er Jahre gewesen sein; hier stellt er 1926 ein erstes Bittgesuch um finanzielle Unterstützung an den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, dem 1928 ein weiteres folgt(16). Beide werden abgelehnt. In den Jahren bis 1928 schlägt er sich mit verschiedenen Tätigkeiten durchs Leben, z.B. im Schiffshandel oder als künstlerischer Leiter einer Music Hall. Die abgeschlossenen literarischen Arbeiten jener Jahre (zwei Dramen -„Geschäft“; „Kuliasch der Hund“- sowie die Novellen „Zusammenhanglose Entscheidungen“) müssen als verschollen gelten.
Nach der Heirat mit Doris Liese Lotte Noelle (später nur unter den Vornamen Lieselotte oder Lilo) im Jahr 1928 suchen die Schlichtkrulls ihr Glück in Portugal; im Dezember 1928 verlassen sie Hamburg in Richtung Lissabon. Schlichtkrull berichtet bis ins Frühjahr 1930 über Lissabon in Feuilletons für den Berliner Börsen Courier(17) und stellt eine erste Übersetzung aus dem Portugiesischen fertig, für die sich ein Verleger findet: „Das Verbrechen des Paters Amaro“ von José Maria Eça de Queiroz erscheint 1930 im Neuen Deutschen Verlag in Berlin sowie parallel in der Universum-Bücherei für Alle, beides Unternehmungen von Willi Münzenbergs „Internationaler Arbeiterhilfe“.
Der Roman, in der Arbeiterpresse auch als Fortsetzungsroman publiziert(18), wird breit in Zeitungen und Zeitschriften vom liberalen Hamburger Fremdenblatt bis hin zur kommunistischen Presse besprochen; Schlichtkrulls Übersetzung fällt auf und wird z.B. als „sauber, klangvoll und federnd“(19) charakterisiert.
Ein Datum der Rückreise der Schlichtkrulls nach Deutschland ist nicht ermittelt – es dürfte deutlich vor der Veröffentlichung des letzten Feuilletons im Lauf des Jahres 1930 liegen(20). Über die Gründe für die Ausreise lässt sich nur spekulieren. Vermutlich ist die sich um 1930 merkbar verändernde politische Lage in Portugal zumindest mitentscheidend: Seit dem 1926 beginnenden Aufstieg der faschistischen Bewegung, die Anfang der 30er Jahre in eine autoritäre Diktatur unter Salazar mündet, ist das Leben für den seit Jugendzeiten der Sozialdemokratie(21) zugehörigen Schlichtkrull deutlich schwieriger.
Die Schlichtkrulls bleiben nicht lange in Deutschland. Noch im selben Jahr 1930, am 24. September, reist das Paar mit der „Palermo“ von Hamburg nach Alicante (vgl. Eintrag in die Passagierliste). Von dort geht die Reise weiter per Schiff nach Ibiza, wo die Schlichtkrulls bis 1937 ansässig sind.
Von 1930/1931 bis 1935 sind die Schlichtkrulls wohnhaft in der Pensión Mediterránea in San Antonio auf Ibiza.
In diesen Jahren gehört Schlichtkrull zu den Begründern und Beförderern des modernen Tourismus auf Ibiza: Er verfasst 1932 eine ganze Reihe von wegweisenden Artikeln über die Entwicklung des Tourismus auf den Pityusen, vor allem auf Ibiza (neben wenigen weiteren Artikeln zu anderen Themen, s.u.)(22), und bringt im selben Jahr auch noch einen Reiseführer über Ibiza für englischsprachige Touristen auf den Markt(23).
Im Juni 1933 schließlich wird Schlichtkrull Leiter des Touristeninformationsbüros im Gran Hotel Ibiza und damit verantwortlich für die Tourismusförderung.
Daneben arbeitet er als Sprachlehrer (er unterrichtet Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch) sowie als Übersetzer und Dolmetscher.
Diese Jahre gehören zu den bestdokumentierten in seinem Leben(24).
Er selbst spricht in einem Brief über diese Jahre als „glorious time among the most wonderfully hospitable and kindly people of the world“(25).
Die wirtschaftliche Lage der Schlichtkrulls ist zunächst, vor der Übernahme der offiziellen Tätigkeiten auf Ibiza, weiterhin schlecht. Ein drittes Bittgesuch an die Stadt Hamburg vom 6.10.1931 wird wiederum abgelehnt. Für selbst verfasste oder übersetzte Werke (Schlichtkrull erwähnt im selben Bittgesuch einen abgeschlossenen eigenen Roman, eine Chronik unter jungen Menschen, die die Geschichte der Jahre 1920 bis 1925 gestalten, und verweist darüber hinaus auf die prinzipielle Zusage, dass im Frühjahr 1932 seine Übersetzung von Queiroz‘ „Os Maias“ veröffentlicht werden soll) findet sich kein Verleger; „Os Maias“, unter dem deutschen Titel „Die Maias“, erscheint dann erst -von einem anderen Übersetzer- 60 Jahre später.
In die erste Zeit des Ibiza-Aufenthalts fällt auch ein scharfer Artikel gegen die ersten zehn Jahre der Regierung Mussolinis in Italien, ebenfalls publiziert im Diario de Ibiza (11.11.1932, S. 2).
In einem undatierten Brief vom Frühjahr 1935 (wohl vom 15.5.1935) unterbreitet Schlichtkrull neben anderen auf Ibiza lebenden Unterzeichnern wie u.a. Lene Schneider-Kainer, Marquardt, Rudolf Selke, Franz von Puttkamer, H. B. Rogers den Vorschlag für eine Exkursion der Teilnehmer des 13. Internationalen Kongresses des PEN in Barcelona (20.-25. Mai 1935) nach Ibiza(26). Diese hat mit großer Wahrscheinlichkeit nicht stattgefunden. Dieses Schreiben ist das einzige Indiz dafür, dass Schlichtkrull in den Jahren des Exils den Kontakt zur Literatur nicht verloren hat. Literarisch geschrieben hat er in jenen Jahren nach eigenen Angaben nicht.
1935 wird Schlichtkrull Repräsentant des spanischen Export-Syndikats für Strumpfwaren; aufgrund dessen ist er viel im europäischen Ausland auf Reisen.
1936 wird die Situation in Spanien aufgrund des Bürgerkriegs unhaltbar.
Das Frühjahr 1936 sieht ihn in Moskau; 1937 ist er in Kopenhagen in einem Emigrantenheim nachgewiesen (seitdem ist er mit Walter Kolbenhoff befreundet). Später im Jahr 1937 wechselt er nach Paris, wo er Mitglied des Lenkungsausschusses der Exil-SPD wird. Von 1938 an bis 1939 arbeitet er als Übersetzer/Dolmetscher der Exil-SPD.
Mit Ausbruch des 2. Weltkriegs wird Schlichtkrull Übersetzer für den französischen Hilfs-Zivildienst; seine letzte in Paris bekannte Anschrift ist 1940 Paris XX. Faubourg St. Antonio. 1940 wird Schlichtkrull In Paris auf offener Straße vom SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) verhaftet und von Paris nach Dachau verschleppt; seine Frau wird am selben Tag verhaftet und in ein „Heimkehrerlager“ in Metz gesteckt; ihr gelingt es allerdings bald danach, bei Freunden in Hamburg unterzukommen.
Schlichtkrull bleibt vom 28.11.1940 bis 10.6.1941 in Dachau interniert. Jahre später äußert er sich über diese Zeit wie folgt: „Myself at dachau, during the winter 1940/41, I fell sick with pleuresy and came, for a funny treatment to REVIER: at an outdoors temperature of about 20 grades below zero – more or less – they made us walk every two days to the showers at a three minutes‘ distance through icy courts, with our bare feet on the soil and dressed in night shirts.. I ‚only‘ caught a double sided lung-tuberculosis; as a rule patients were cured to death: at the time they only started installing their Auschwitz ovens. …“ (Brief an Granville Hicks vom 4.2.1949; vgl. Anm. 25).
Seit Juli 1941 ist Schlichtkrull Invalide; er steht unter polizeilicher Überwachung, ist aber nicht mehr inhaftiert. In den Jahren 1941 bis1945 muss er drei Operationen, u.a. eine Thorakoplastik, über sich ergehen lassen; von 1943 an ist er bettlägerig.
1945 nimmt Schlichtkrull seine schriftstellerische Tätigkeit wieder auf; er findet in der frühen Nachkriegszeit auch rasch Verlage, die seine Texte veröffentlichen wollen:
Im Januar 1946 (12.1.) schließt er einen Vertrag mit dem Goverts Verlag über seine Übersetzung von Jules Vallès Roman „Jacques Vingtras“, bestehend aus den drei Bänden „1. L’Enfant 2. Le Bachelier 3. L’Insurgé“ (Ablieferung vereinbart zum 1.4.1946), wenige Tage später (am 18.1.1946) ebenfalls mit dem Goverts Verlag über seine Übersetzung von Jules Vallès „Les Réfractaires“, die zum damaligen Zeitpunkt beim Verlag bereits vorliegt. Die Übersetzung von „Les Réfractaires“ erscheint noch im selben Jahr 1946 bei Claassen & Goverts unter dem Titel „Die Abwegigen“ als einzige Buchveröffentlichung Schlichtkrulls nach dem II. Weltkrieg zu Lebzeiten. Diejenige des „Jacques Vingtras“ erscheint erst mit einer Verspätung von fünf Jahren, bereits nach Schlichtkrulls Tod, 1951 bei Claassen.
Große Hoffnungen setzt Schlichtkrull auf den Alster Verlag Curt Brauns(27), mit dem er im September 1946 einen Vertrag über eine mehrbändige Ausgabe seiner eigenen Arbeiten abschließt, u.a. über „Gesammelte Gedichte“ und über „Drei Geschichten von Ibiza“. 1948 folgt ein weiterer Vertrag mit Brauns über die Übersetzung von Léon Blums „Stendhal et le Baylisme“. 1948/49 druckt Brauns einen eigenen Prospekt für die geplanten Schlichtkrull-Bände, in dem als letztes auf die Veröffentlichung von Schlichtkrulls Übersetzung von Stendhals „De l’Amour“ unter dem Titel „Von der Liebe“ aufmerksam gemacht wird.
Letztlich scheitern alle Veröffentlichungspläne mit Brauns: Der Verlag erlischt, ohne dass ein Buch Schlichtkrulls, sei es als Autor, sei es als Übersetzer, erscheint. In einem Schreiben an die damals in Bad Segeberg lebende österreichische Grafikerin und Illustratorin Anny Schröder (* 16. Mai 1898 in Wien; † 11. April 1972 in Bad Segeberg) vom 21. April 1949 bereitet Brauns die Künstlerin auf das nahe bevorstehende Aus für seinen Verlag vor(28), in dem die letzten Publikationen 1949 erscheinen.
In diesen frühen Nachkriegsjahren gibt es für Schlichtkrull nur ein einziges Erfolgserlebnis: einen dem Dichter und Übersetzer Thomas Schlichtkrull gewidmeten Abend der Heinrich-Heine-Gesellschaft am 29.9.1946 in Züchtigs Konservatorium in Hamburg-Klein Flottbek, an dem er auch selbst teilnehmen kann. Einige wenige erhaltene (undatierte) Rezensionen (u.a. von Carl Albert Lange, einem Bekannten aus seiner frühen Hamburger Zeit) lassen auf einen künstlerisch eindrucksvollen Abend schließen.
Im Juni 1946 ist Schlichtkrull mit seiner Frau in Hamburg-Langenhorn (Ahlfeld 51) wohnhaft. Da er nicht arbeitsfähig ist, ist die finanzielle Lage der kleinen Familie desolat.
Schlichtkrull ist, spätestens seit dem Fortzug aus Ibiza 1937, bis zu seinem Lebensende auf Unterstützung angewiesen: Aus dem Jahr 1937 datiert ein erstes Schreiben an die 1935 gegründete American Guild for German Cultural Freedom, für die Thomas Mann als Präsident der literarischen Sektion tätig ist. Ob die „Guild“ bereits 1937 Schlichtkrull unterstützt, ist nicht ermittelbar. Spätestens nach Ende des II. Weltkriegs ist die Not der Schlichtkrulls in Kreisen der Exilanten weithin bekannt. Thomas Mann bspw. empfiehlt ihn der Organisation „New York Friends“ (Brief an Grete Perleberg vom 20.8.1948). Von wem er tatsächlich Unterstützung erfährt, lässt sich nicht im Detail ermitteln. Einer der Unterstützer ist sicher der amerikanische Marxist und später antimarxistische Schriftsteller, Literaturkritiker, Pädagoge und Herausgeber Granville Hicks(29).
Schlichtkrull versucht bald nach Kriegsende, Deutschland in Richtung Süden zu verlassen, wo sich ihm aufgrund der dortigen klimatischen Verhältnisse eine bessere Lebensperspektive bietet. 1947 kommt er schließlich in Nizza an, von wo er an Carl Albert Lange am 11. August schreibt: „ … das tiefste Tal ist durchschritten; und denken Sie, mit eigener Stimme: denn – ich kann wieder reden. Wo wir leben, sagen sich, in der Tat in einem gemischten Hain aus Pinien, Feigen, Oliven und Mandeln buchstäblich (und heiser) die Füchse gute Nacht; …“(30).
1949 erreichen die Schlichtkrulls schließlich St. Paul-de-Vence (“Maison Alziary“), wo sie bis zum Tod Schlichtkrulls am 13. September 1950(31) wohnhaft sind. Schlichtkrulls Frau Lieselotte überlebt ihn um fast 40 Jahre und stirbt am selben Ort am 14. Juni 1988.
In den wenigen Monaten, die ihm noch verbleiben, arbeitet er rastlos an der bereits erwähnten neuen deutschen Ausgabe aller Werke Stendhals für Curt Brauns, für die Anfang 1949 bereits sechs Werke vorliegen:
- Léon Blum: Stendhal et le Baylisme or the Reality of the Possible;
- De l’amour [die ersten beiden Bände bereits im Druck];
- Armance;
- Lamiel;
- Lucien Leuwen und
- Chroniques d’Italie
Darüber hinaus ist ein eigener großer Roman in Bearbeitung.
Die Schlichtkrulls sind auch in Frankreich (weiter) von der Unterstützung von Hilfskomitees abhängig; die ihm zustehende Pension des französischen Staats liegt in weiter Ferne.
Schlichtkrulls Tod wird in Kreisen der (ehemaligen) Exilanten bedauert; so schreibt Annemarie Meier-Graefe, die zweite Frau Hermann Brochs, an ihren Mann: „Soeben bekomme ich von Lannatsch [Anna Schickele] die Nachricht, daß der arme Schlichtkrull in St. Paul gestorben ist. Er war dieser deutsche Schriftsteller, der in Dachau sich die Tuberkulose geholt hat, und dem ich durch Hannah und Dwight MacDonald helfen konnte. Ich sah ihn noch, wie ich dort [war], für ein paar Minuten. Ein trauriger Anblick, aber bis zum letzten Augenblick war er voller Mut und Lebenswillen.“(32)
In Deutschland wird noch einmal anlässlich der Veröffentlichung seiner Übersetzung von Vallès‘ „Jacques Vingtras“ auf ihn aufmerksam gemacht. DIE ZEIT kennt in ihrer Besprechung „Ein Insurgent und ein Rebell“ (DIE ZEIT Nr. 13/1952 vom 27. März) noch sein Todesdatum; anschließend gerät er (vollends) in Vergessenheit – wie auch der Roman, von dem (z.B.) 1958 gerade einmal 30 Exemplare verkauft werden.
Schlichtkrulls Witwe kämpft lange Jahre um Anerkennung Schlichtkrulls als Opfer des Faschismus und um eigene Rente – die Akte Schlichtkrull im Staatsarchiv Hamburg belegt minutiös, mit welchen zumindest impliziten Vorbehalten Lieselotte Schlichtkrull leben muss, ehe ihr eine bescheidene Rente zugestanden wird. Eine späte Reminiszenz erfährt Schlichtkrull in der kleinen Erzählung „Thomas Schlichtkruil. Poète“ in der Sammlung „Dans la Fontaine de Peyra“ von Cecile Cantot(33). Allerdings hat die Titelfigur mit dem verstorbenen Dichter kaum mehr als nur den Namen gemeinsam.
Anmerkungen:
- Standort: Staatsarchiv Hamburg unter der Signatur 362-2/26 ↩︎
- vgl. Rudolf Förster: Neue Zeitschriften; in: Die neue Bücherschau 1928. Nr. 11, S. 602 ↩︎
- so am 1.10.1919. Brief Nr. 229 in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin. Auch bei Athina Chadzis: Die expressionistischen Maskentänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt. Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 1998, S. 72. ↩︎
- Brief Lothar Schreyers an Herwarth Walden vom 14.10.1919. Brief Nr. 230 in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin; vgl. David F. Kuhns: German Expressionist Theatre. The actor and the stage. Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 281. Anm. 76 ↩︎
- Kräfte Jg. 1 (1919). Nr. 3, S. 24 f ↩︎
- Hinter dem Tor; in: Wende 1920. Nr. 1 (Januar 1920), S. 14; Ahnen; in: Wende 1920. Nr. 3 (März 1920), S. 39 ↩︎
- Jos. K.: Pesme sv. Stefanovica i J. Kosora; in: Savremenik [Zagreb] 1920. Nr. 15, S. 156 ↩︎
- Maike Bruhns: Kurt Löwengaard (1895-1940). Ein vergessener Hamburger Maler. Hamburg: Verein für Hamburgische Geschichte 1989. S. 104. Anm. 80 ↩︎
- Eine Würdigung der Abende findet sich in der Altonaer Zeitung vom 19.1.1926 bei Alexander Enns: „Vom Ueberbrettl zur „Jungfrau“ ↩︎
- Ebda ↩︎
- Nachweisbar sind folgende Feuilletons:
Die Meister und ihre Zuschauer; in: Frankfurter Zeitung 14.2.1925. Nr. 45. Morgenblatt, S. 1
Zeitweilige Hamburgensien; in: Frankfurter Zeitung 16.2.1925. Nr. 124. Morgenblatt, S. 1 f
Internationale Ruderregatta; in: Frankfurter Zeitung 15.7.1925. Nr. 196. Zweites Morgenblatt, S. 1 ↩︎ - Walter Anatole Persich: Joachim Ringelnatz und das einsame Streichholz. Intimes aus dem Bohemeleben; in: Neues Wiener Journal 5.12.1927, S. 6 ↩︎
- Rudolf Förster: Neue Zeitschriften; vgl. Anm. 2;
Der Herausgeber sein eigener Kolporteur. Drahtbericht des „Wiener Montagsblattes“; in: Wiener Neueste Nachrichten 27.8.1928, S. 5 ↩︎ - OdF-Akte Thomas Schlichtkrull im Staatsarchiv Hamburg. Signatur 351-11_26049; hier Blatt 65 ↩︎
- Zu dieser Gesellschaft vgl. BT 19.7.1927. Nr. 336. 2. Beiblatt, Handelszeitung ↩︎
- Vgl. die Akten im Staatsarchiv Hamburg unter der Signatur 363-2_Eb 295 ↩︎
- Theater und Musik. Theater in Lissabon; BBC 10.1.1929. Nr. 15, S. 5
Das Land der Verschwörungen; in: BBC 21.4.1929. Nr. 185, S.1 f
„Libellen schwärmen“. Portugals Diktaturkrise; in: BBC 3.4.1930. Nr. 105. S. 1f ↩︎ - z.B. in der Norddeutschen Zeitung. Organ der KPD für die Werktätigen Norddeutschlands von August bis Dezember 1931 ↩︎
- Ernst Sander: Ein Autor verdirbt sein Werk; in: Hamburger Fremdenblatt 29.11.1930. Nr. 331, S. 24. ↩︎
- Eça de Queiroz: Lissabon. 1880; in:
Berliner Tageblatt. 28.12.1930, Nr. 610. 5. Beiblatt, S. 1.
Übertragung aus dem Portugiesischen von Thomas Schlichtkrull. eingebunden in: L.H.: Porträt einer Stadt. Ebda ↩︎ - In autobiographischen Notizen gibt Schlichtkrull an, schon bald nach 1914 Mitglied der Sozialistischen Jugend Deutschlands gewesen zu sein. Später, in den 20er Jahren, organisiert er in Hamburg das 1. Matteotti-Komitee, um sozialistischen italienischen und russischen Flüchtlingen zu helfen.
Als es nach seinem Tod in der Nachkriegszeit um Wiedergutmachungs-ansprüche der Witwe geht, bestätigt die Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten Schlichtkrulls Parteimitgliedschaft schon vor dem Jahr 1933 (Staatsarchiv Hamburg. Signatur 351-11_26049. Blatt 41) ↩︎ - Fantasmagonía seudónimas; in: Diario de Ibiza, 9.6.1932, S. 2
Cuento ibicento; in: Diario de Ibiza, 13.6.1932, S. 2
Turismo internacional.-Desenvolvimiento y significación; in: Diario de Ibiza, 14.6.1932, S. 2
Organización mundial del turismo; Diario de Ibiza, 14.6.1932, S. 2
Las comunicaciones marítimas, terrestres y aeronáuticas y su influencia sobre el turismo; in: Diario de Ibiza, 20.6.1932, S. 3
Ibiza – desconocida; in: Diario de Ibiza, 24.6.1932, S. 3
Propaganda e iniciativa del turismo; in: Diario de Ibiza, 27.6.1932, S. 2
Turismo internacional a Ibiza. T. 1; in: Diario de Ibiza, 28.6.1932, S. 2
Turismo internacional a Ibiza. T. 2; in: Diario de Ibiza, 30.6.1932, S.
2
Entrevista con el profesor Hespelt; in: Diario de Ibiza, 8.7.1932, S.2
Entrevistas con turistas extranjeros; in: Diario de Ibiza, 19.7.1932, S. 3
Entrevistas con turistas extranjeros : lo que nos dijo el capitán Owens; in: Diario de Ibiza, 25.7.1932, S. 2
Ocasión perdida; in: Diario de Ibiza, 26.7.1932, S. 3
La base económica del turismo en Ibiza; in: Diario de Ibiza, 27.7.1932, S. 3
Hoteles, hoteles, hoteles; in: Diario de Ibiza, 5.8.1932, S. 2
Suiza, modelo de propaganda turística; in: Diario de Ibiza, 9.8.1932, S. 2
¡Guerra química! In: Diario de Ibiza, 13.8.1932, S. 3
Impertinencias; in: Diario de Ibiza, 14.8.1932, S. 3
Patronato nacional de turismo; in: Diario de Ibiza, 16.9.1932, S. 3
Hollander, Walter von: La destronización de la producción, T. 1; Schlichtkrull, T. (Übersetzung); in: Diario de Ibiza, 10.10.1932, S. 2
Hollander, Walter von:. La destronización de la producción. T. 2; Schlichtkrull, T. (Übersetzung); in: Diario de Ibiza, 11.10.1932, S. 2
El significado económico del turismo; in: Diario de Ibiza, 25.10.1932, S. 3
Fin de una campaña; in: Diario de Ibiza, 3.11.1932, S. 3
Diez años Mussolini; in: Diario de Ibiza, 11.11.1932, S. 2
Nuevas fases del turismo en Ibiza; in: Diario de Ibiza, 31.5.1933, S. 2
Por qué no se organiza el fomento del turismo? In: Diario de Ibiza, 24.6.1933, S. 2
Ibiza, balneario de la antigüedad; in: Diario de Ibiza, 29.11.1934, S. 3 ↩︎ - English Guide to Iviza. Imp. J. Verdera, Eivissa. 1932 ↩︎
- Enciclopèdia d’Eivissa i Formentera [EEIF]:
https://www.eeif.es/veus/Schlichtkrull-Thomas/
José Ramón Cardona; Antoni Serra Cantallops:
Inicios del turismo y actitudes de los residentes
El caso de Ibiza – España
Estud. perspect. tur. vol.23 no.1 Ciudad Autónoma de Buenos Aires ene. 2014
https://www.scielo.org.ar/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S1851-17322014000100001;
besonders zu berücksichtigen:
José Ramón Cardona:
Actitudes de los residentes hacia el turismo en destinos turísticos consolidados. El caso de Ibiza.
Tesis doctoral. Universitat de les Illes Balears, 2012
https://www.tdx.cat/bitstream/handle/10803/104266/tjrc1de1.pdf?sequence=1;
hier: S. 185-187 ↩︎ - Brief an Granville Hicks vom 4.2.1949; Special Collections Research Center at Syracuse University Libraries ↩︎
- Original im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt am Main ↩︎
- Curt Hugo Brauns, * 18. Oktober 1907 in Hamburg; † 25. Juli 1980 in Frechen.
Brauns erhält, obwohl der Verlag (1919 vom Vater gleichen Vornamens gegründet) die NS-Jahre hindurch publiziert, am 2.11.1945 als einer der ersten Verlage eine Lizenz in der Britischen Besatzungszone. Vgl. dazu Klaus Doderer: Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945-1960. Weinheim u. Basel: Beltz 1988, S. 269.
Der Verlag scheitert 1949 aufgrund finanzieller Probleme. Brauns zieht 1950 nach Frechen, arbeitet für einige Jahre für den Bund-Verlag, ehe er 1953 eine Buchhandlung gründet, die heute noch besteht. ↩︎ - Vgl. Andreas Hillert: Anny Schröder: Leben und Werk einer Künstlerin zwischen Wiener Werkstätte, drittem Reich und Postmoderne. Münster: LIT Verlag 2014, S. 244 ↩︎
- Granville Hicks, * 9. September 1901, Exeter, New Hampshire; † 18. Juni 1982, Franklin Park, New Jersey. Schlichtkrulls Briefe und -nach seinem Tod- die seiner Frau sind erhalten [s.o.], die Gegenbriefe leider nicht.
Hicks bewahrt Schlichtkrull bald nach dessen Tod ein ehrendes Andenken in seinem sehr persönlichen Essay „A Man I Used To Write To“ (in: The New Leader 4.12.1950, S. 13). ↩︎ - Original in der SUB Hamburg unter der Signatur: NC : Bb 155. Nachlass Carl Albert Lange / Briefe / Briefe an Carl Albert Lange ↩︎
- Das Grab befindet sich in der Ruhestätte Porchel. ↩︎
- Der Tod im Exil. Hermann Broch [-] Annemarie Meier-Graefe. Briefwechsel 1950/51. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 115 ↩︎
- Cecile Cantot, * 9.6.1908 in Paris 14. Arrondissement; † 29.8.1984 in Saint-Germain-en-Laye. Der Erzählungsband erscheint 1969 in der Ed. la Diane, Nice. ↩︎