Lichtbildnerin
Gertrud Munckel wird am 17.4.1903 in Hamburg geboren(1). Ihr Vater Otto Friedrich Julius Munckel (1859-1936) war als Kaufmann Mitbegründer der Hamburger „Firma Munckel Gebrüder & Co. Adolph Munckel“, ihre Mutter war Lucie Marie Julie Thiele, die Otto Munckel 1900 in Grabow geheiratet hatte. Gertrud hat eine Schwester, Hildegard (später Awe).
Seit 1903(2) ist die Familie Munckel in Hamburg ansässig.
Munckel taucht in den 20er Jahren als Photographin in Berlin auf. Nach Abschluss der Schule (Realgymnasium) ist sie um 1921 (höchstwahrscheinlich) Schülerin beim Lette-Verein, der seit 1890 eine Photographische Lehranstalt betreibt. Sie ist beteiligt an der Ausstellung „Berliner Photographie 1921“; dort stellt sie erste Arbeiten aus(3).
Im „Adressbuch der Photographie: Industrie, Handel, Gewerbe von 1929“ wird das Gründungsjahr ihres Berliner Photostudios mit 1922 angegeben(4). Dass Munckel 1922 das Studio selbst gegründet hat, ist allerdings nicht wahrscheinlich – in jenem Jahr war sie noch nicht einmal volljährig.
Hinzu kommt, dass sie sich zum Sommersemester 1923 an der Universität Hamburg für Chemie immatrikuliert, dieses Studium allerdings nach einem Jahr (nach dem Wintersemester 1923/24) wieder aufgibt(5).
Vieles spricht dafür, dass sie das Studio in der Westarpstraße 4, 5. OG, in Berlin W 30 im Jahr 1925 übernommen hat; 1926 taucht sie unter dieser Anschrift dann erstmals im Berliner Adressbuch auf.
Munckel profiliert sich rasch als Portraitphotographin. Erste (gelaufene) Portrait-Postkarten lassen sich sicher auf 1926 datieren (z.B. von Siegfried Jacobsohn, dem 1926 verstorbenen Begründer der „Schaubühne“), erste in Zeitschriften publizierte Photographien ebenfalls (z.B. von Karol Rathaus in „Die Musik“. (Jg. 18, 2. Halbjahr 1926, nach S. 900). 1926 erscheint auch ein erster knapper Artikel über sie und ihre Arbeit im Novemberheft von „Velhagen & Klasings Monatsheften“: „Die Lichtbildkünstlerin Gertrud Munckel“.
Der größte Teil von Munckels Werk muss heute als verschollen gelten(6); vereinzelt sind Photoabzüge nachweisbar (z.B. Portrait Albert Einstein) oder tauchen im Antiquariats- oder Auktionshandel auf (z.T. als Nachdruck, z.B. Fischernetze, 2019) – zumeist finden sich ihre Portraitarbeiten aber lediglich im Postkartenformat als (Werbe- und Autogramm-) Karten oder in Zeitschriften.
Versucht man eine vorsichtige Abschätzung auf der Basis von noch nicht einmal 30 nachgewiesenen Portrait-Arbeiten Munckels, lässt sich konstatieren, dass sich diejenigen von ihr ablichten ließen, die Fritz Stahl „das geistige Berlin“ der 20er Jahre nennt(7): die, die mitspielten oder mitspielen wollten im Kreis der Schönen und (Einfluss-)Reichen, nämlich Sänger*innen, Schauspieler*innen, Wissenschaftler, Publizisten und andere mehr.
Die Zeitschriften (teilweise inzwischen digitalisiert) decken das Spektrum des gesellschaftlichen Lebens jener Jahre ab; ihre Arbeiten finden sich u.a. in „Figaro. Halbmonatsschrift für Geist- und Körperkultur“, im „Querschnitt“, in der „Revue des Monats“, „Scherl’s Magazin“, „Velhagen & Klasings Monatsheften“ oder „Westermanns Monatsheften“ und darüber hinaus in Tageszeitungen wie dem Berliner Tageblatt.
Höhepunkt in Munckels Laufbahn dürfte die Ausstellung „Photographische Bildnisse“ in der „Sturm“-Galerie gewesen sein, die [nach heutigem Stand] 167. in der langen Reihe der „Sturm“-Ausstellungen, zu sehen im Februar/März 1928 (noch) in den Räumen Potsdamer Straße 134a.
Sehr früh findet sich bald nach Eröffnung eine erste (sehr positive) Besprechung Ernst Collins in der Berliner Volks-Zeitung vom 24.2.1928(8); Munckel aber möchte mehr: Sie bittet am 26.Februar d.J. Willy Ganske (1870-1940), Kunstschriftsteller und Redakteur der Tageszeitung „Der Tag“ und des „Berliner Lokal-Anzeigers“, um eine Rezension(9). Eine Besprechung Ganskes ist nicht nachweisbar; aber die Ausstellung bleibt nicht ohne weitere Resonanz in der Berliner Presse: Fritz Stahl widmet sich ihr im Berliner Tageblatt (vgl. Anm. 7) und wenig später auch Emil Szittya im „Photo-Spiegel“ des Berliner Tageblatts(10). Damit zählt diese Ausstellung zu den meistbeachteten Ausstellungen der späten „Sturm“-Jahre.
Szittya wertschätzt Munckel als „wohl eine der ehrgeizigsten deutschen Lichtbildnerinnen“. Ohne gleich so weit zu gehen, loben alle Rezensenten Munckels Arbeiten (mit kleinen Abstrichen, s.u.) auf das höchste: Stahl preist ihre „Gabe, die Menschen in bezeichnender Haltung vor den Apparat zu bringen“ (BT 13.3.1928); Szittya erkennt in den Bildern, „dass es der Photographin nicht auf die äussere, sondern auf die innere Aehnlichkeit ankam; es sind nicht nur photographierte Gesichter, sondern schlechthin Bildnisse im wahren Sinne des Wortes, die Wiedergabe dessen, was eine Künstlerin mit hellem Blick in Menschengesichtern zu lesen verstand“ (BT 15.3.1928). An dieser Stelle nähern sich Szittyas Formulierungen denen des „Sturm“-Impresarios Walden mehr als 10 Jahre zuvor deutlich an; dieser wird sich (zählt er doch auch zu den Portraitierten) auch nach Ende des expressionistischen Jahrzehnts wieder bestätigt gesehen haben.
In den gezeigten Bildern greift Munckel eine von ihr neu entwickelte Technik auf: Sie montiert die Photos auf farbige Kartons: „Die Ausstellung versucht durch Verwendung farbiger Untergründe der spezifischen Wirkung der Farbe auf das menschliche Gemüt näherzukommen. Auf der Grundlage der prismatischen Entstehung der Farben …und der damit beobachteten Tatsache, daß die Farbe immer zwischen Licht und Finsternis steht, bringe ich die Farben in Beziehung zu dem im Bilde dargestellten Menschen, dem Hell und Dunkel zwei Grundstimmungen der Seele entsprechen lassend“ (G. Munckel, zitiert nach Ernst Collin; BVZ 24.2.1928).
Munckels neuartige Methode stößt nicht auf einhellige Begeisterung. Collin begrüßt das Grün für Zuckmayer und das Orange für Einstein; Stahl dagegen dekretiert: „Und entschieden abzulehnen ist das Aufbringen auf farbige Unterlagen. Es gehen nur Silber und andere Nuancen in Grau.“ (BT 13.3.1928).
Immerhin: Die junge Photographin ist im Gespräch und hält einen Vortrag über ihre „Versuche, durch Verwendung farbigen Kartons besondere Stimmungen zu erzielen, wobei sie von Goethes Definition der Farben ausgeht …“(11).
Zu diesem Zeitpunkt steht die Mittzwanzigerin unmittelbar vor ihrer Eheschließung: Kurz vor Weihnachten 1926 verlobt sie sich mit dem Biologen Dr. Clemens Künne. Diese Verlobung annonciert sie im Berliner Tageblatt (BT 22.12.1926). Für die Anzeige ihrer Hochzeit am 8. Juni 1928 in Hamburg wird dann allerdings eine der Zeitungen ihrer Heimatstadt Hamburg vorgezogen (Hamburger Nachrichten 19.6.1928).
Ihr Mann ist seit 1926 Assistent an der Biologischen Anstalt Helgoland und wird dort, nach Eintritt in die NSDAP, 1940 Oberassistent und 1941 Kustos.
Gertrud Munckel arbeitet in ihrem Beruf kaum mehr als vier Jahre; zwar taucht sie im Berliner Adressbuch noch bis 1931 auf; aufgrund des Redaktionsschlusses für dieses Jahrbuch dürfte sie ihre Tätigkeit jedoch spätestens 1930 beendet haben.
Vermutlich um 1930 (ein genaues Datum hat sich bislang nicht ermitteln lassen) folgt sie ihrem Mann nach Helgoland; ihre kurze, mehr als nur erfolgversprechende Karriere als Photographin ist beendet.
Anfang 1932 bekommt das Paar sein einziges Kind, den Sohn Reinhard Otto Hermann Eduard Hildebrand, der von den ehemaligen künstlerischen Aktivitäten wohl nichts erfährt und auf Befragen in den 2010er Jahren somit keinerlei Kenntnis davon besitzt.
Das Ehepaar Künne muss mit Kriegsende Helgoland (wie alle Bewohner*innen der Insel) verlassen. Im Juli 1945 finden wir sie, aus Gebesse bei Erfurt kommend, in Goslar wieder. Von dort zieht die Familie 1949 nach List auf Sylt weiter, wo Künne wieder an der dortigen Zweigstation der Biologischen Station Helgoland tätig ist.
Künne stirbt früh, mit nur 50 Jahren, am 10. September 1951 in der Lungenklinik Tönsheide bei Neumünster.
Gertrud Künne zieht von Sylt 1952 wieder zurück nach Goslar, wo sie zwei Jahre später, am 17. Mai.1954, verstirbt.
Anmerkungen:
- Standesamt 21 Hamburg Nr. 627 /1903 ↩︎
- lt. Hamburger Adressbuch ↩︎
- vgl. Berliner Photographisches Jahrbuch 1921“, Hg. Arthur Ranft. Halle/Saale: Wilhelm Knapp, 1921 [Dank an DAS VERBORGENE MUSEUM]. ↩︎
- a.a.O., S. 68 ↩︎
- Matrikelportal der Universität Hamburg; https://www.matrikelportal.uni-hamburg.de/receive/matrikelhh_person_00018139, zuletzt überprüft am 30.3.2023 ↩︎
- vgl. das Verzeichnis bislang nachgewiesener photographischer Arbeiten [Anlage Portrait] [Anlage Landschaften] ↩︎
- Fritz Stahl: Ausstellungen; in: Berliner Tageblatt [BT] vom 13.3.1928, S. 3 ↩︎
- E[rnst]. C[ollin].: Der Stil ist der Mensch. Eine Kunstwanderung. In:
Berliner Volks-Zeitung [BVZ] vom 24.2.1928. Nr. 93, S. 2 ↩︎ - Autograph inzwischen verkauft; Digitalisat im Besitz des Verf. ↩︎
- E[mil]. Sz[ittya].: Ausstellung Gertrud Munckel. In: Photo-Spiegel. Illustrierte Wochenschrift des Berliner Tageblatts vom 15.3.1928. Nr. 11, o.P. [S. 1]. ↩︎
- Photographische Rundschau und Mitteilungen Bd. 65. 1928, S. ix ↩︎
Literaturhinweise:
- P[aul?].W[estheim?].: Illustrierte Rundschau. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 41. Jg. (1926/27). Nr. 3 vom November 1926, S. 346 – 352 passim
- E[rnst]. C[ollin].: Der Stil ist der Mensch. Eine Kunstwanderung. In:
Berliner Volks-Zeitung vom 24.2.1928. Nr. 93, S. 2 - Fritz Stahl: Ausstellungen. In: Berliner Tageblatt vom 13.3.1928. Nr. 123, S. 3
- E[mil]. Sz[ittya].: Ausstellung Gertrud Munckel. In: Photo-Spiegel. Illustrierte Wochenschrift des Berliner Tageblatts vom 15.3.1928. Nr. 11 o.P. [S. 1].
- [Ausstellungshinweis]; in:
Der Kunstwanderer 1927/28. 1./2. Märzheft 1928, S. 304