Veranstaltungen des „Sturm“ in Berlin – Sturm-Abende

Die Dokumentation mit dem sperrigen Titel „Veranstaltungen des „Sturm“ in Berlin – Sturm-Abende“ versammelt alle Veranstaltungen in der Regie des „Sturm“, die sich ab 1912 in Berlin -nicht ausschließlich in den jeweiligen Räumlichkeiten des „Sturm“- nachweisen lassen.

Die Reihe der Veranstaltungen (ab 1.9.1916 unter dem Markennamen „Sturm-Abende“, s.u.) beginnt in der Nachfolge der etwa 100 Veranstaltungen des „Vereins für Kunst“, der zwischen 1904 und Winter 1912(1)(2) aktiv ist.
Dabei wird der „Verein für Kunst“ im Hintergrund weitergeführt; er befindet sich, als er im April 1919 mit dem Verein „Sturmbühne“ und dem „Sturmklub“ zur „Gesellschaft der Sturmfreunde“ vereinigt wird, in seiner 16. Saison.

In dem Maße, in dem Walden Anfang 1912 sein Hauptaugenmerk auf die moderne bildende Kunst legt, stehen am Anfang der Veranstaltungen des „Sturm“ Vorträge zur modernen Kunst, für die Walden in den Jahren 1912 bis 1914 die Protagonisten der frühen Avantgarde in Berlin präsentiert: Marinetti für die italienischen Futuristen, Apollinaire als Apologeten des Kubismus. Öffentliche Vorträge Waldens, vor Beginn des Ersten Weltkriegs noch in geringer Zahl, treten hinzu.

Literarische, besser: Dichtungs-Abende treten erst nach dem Tod August Stramms 1915 wieder in das Blickfeld: Ein Jahr nach dem Tod des Dichters (und Hauptmanns) beginnt am 1.9.1916 die lange Reihe der eigentlichen „Sturm-Abende“, die zu einem großen Teil einem festen Schema folgen: Rezitation von Werken der Dichter aus dem Umkreis des „Sturm“ durch Rudolf Blümner plus Klavierstücke Waldens, vom Komponisten selbst gespielt.
Die vorliegende Dokumentation versucht, die Reihe der „Sturm-Abende“ möglichst lückenlos zu rekonstruieren. Das ist für die ersten drei Saisons (1916/17 – 1918/19) noch zum großen Teil leistbar gewesen; in der Nachkriegszeit, beginnend mit der 4. Saison 1919/20, spätestens ab 1920, wird die Zahl der Ankündigungen, Besprechungen oder gar Dokumente dann jedoch deutlich geringer. Das mag damit zusammenhängen, dass an den Abenden, an denen nur das Duo Blümner/Walden auftrat, die Presse nicht mehr reagiert hat. Stattgefunden haben „Sturm-Abende“ aber zweifellos weiter regelmäßig.
Als Hilfsmittel wurde gewählt, unsichere Nummerierungen der Abende in eckige Klammern zu setzen, unsichere Abende rot zu markieren.

Ab 1920 wandelt sich das Profil der „Sturm-Abende“, zunächst ganz allmählich: Es tauchen erste neue Künstler auf, die das Programm mit eigenen Werken gestalten (z.B. Schwitters ab Mai 1920); und es beginnt im März 1921 die lange Reihe von Abenden, die dem modernen Tanz gewidmet sind. Zeitgenössische Musik (abgesehen von Kompositionen Waldens) spielt (fast(3)) nur in der Saison 1921/22 eine bedeutsame Rolle bei den „Sturm-Abenden“, als die Melos-Gemeinschaft insgesamt 13 gut dokumentierte Kammermusik-Abende unter der Leitung von Fritz Windisch(4) in der Potsdamer Straße 134a veranstaltet. An diesen Abenden werden neue Kompositionen u.a. von Bartók, Hindemith, Krenek, Milhaud, Rimski-Korsakow oder Schönberg von führenden damaligen Solist*innen und dem Lambinon-Quartett aufgeführt und überwiegend sehr positiv besprochen. Es bleibt bei der einen Saison 1921/22; 1922/23 finden die Melos-Kammermusik-Abende nicht mehr im „Sturm“ statt.
Im Frühjahr 1921 ist eine weitere Premiere zu konstatieren: Erstmals (soweit bekannt) vermietet der „Sturm“ seine Räumlichkeiten für Außenstehende(5); hier noch eine Ausnahme, wird die Vermietung der Räumlichkeiten des „Sturm“ spätestens seit den Inflationsjahren eine Notwendigkeit, um den Betrieb von Verlag, Zeitschrift und Galerie aufrecht zu erhalten. Bereits am 5.3.1922 schreibt Walden an Eva Weinwurzel aus Nizza: „Hauptsache Vermietung, Vermietung und Bälle“(6).

Die „Sturm-Abende“ im engeren Sinne (Blümner/Walden) feiern am 24. Mai 1922 ihr 200., am 7. Januar 1925 noch ihr 250. Jubiläum. Bis zur (rekonstruierten) Nummer 268 am 2. September 1925, eine Gedächtnisfeier für August Stramm anlässlich dessen 10. Todestags, lassen sich die Abende dann zumindest teilweise noch rekonstruieren.
In diesen gut drei Jahren hat sich das Programm deutlich erweitert. Neben dem Duo Blümner/Walden sowie Schwitters, der regelmäßig zu Gast ist, treten weitere Künstler aus dem Umfeld von „Sturm“ und Bauhaus sowie aus befreundeten internationalen Avantgarde-Gruppierungen an „Sturm-Abenden“ auf: Kurt Liebmann (erstmals 9.9.1922), Johannes Itten (8.11.1922), Ernő/Ernst Kállai von „MA“ (21.11.1922), Otto Nebel (erstmals 21.5.1924), Ruggero Vasari aus der zweiten Generation der italienischen Futuristen (10.12.1924) oder Waldemar Eckertz (1.4.1925), Moholy-Nagy schließlich noch 1927 (18.5.).
Hinzu treten Vortragsreihen, die die drei führenden „Sturm“-Künstler Blümner, Schreyer und Walden sowie zusätzlich Wauer ab 1923 unter dem Dach des „Sturm“ anbieten – Blümner und Walden zu künstlerischen Themen, Schreyer und Wauer zu philosophischen bzw. religiösen Themen, die in der damaligen Lebensphase der beiden eine wichtige Rolle spielten (bei Schreyer dann bis zum Ende seines Lebens). Als eine Besonderheit der Jahre bis 1925 sei auf einige Abende hingewiesen, die dem damals neuartigen reflektorischen Lichtspiel gewidmet sind (Hans Haffenrichter im Oktober 1923, Kurt Schwerdtfeger im April 1924).

In den 20er Jahren lassen sich einige weitere rote Fäden finden, die sich durch die „Sturm-Abende“ ziehen. Es spricht für das Bemühen des „Sturm“, sich im Zentrum der Internationalen Avantgarden zu positionieren, dass er, wenn auch nur in unregelmäßigen Abständen, Protagonisten internationaler Avantgarde-Gruppierungen ein Forum auch auf „Sturm-Abenden“ bietet. Auf Kállai und Vasari ist eben bereits hingewiesen worden; später treten noch Miroslav Ponc (mehrfach ab 1925) und Ferdinand Delak, Herausgeber der slowenischen Avantgarde-Zeitschrift „Tank“, (26.10.1928) hinzu. Wichtiger noch sind allerdings wohl Abende zur Kunst der Sowjetunion, die sich von Winter 1921 an (zwei Vorträge Konstantin Umanskijs) bis 1930 (Majakowski-Abend am 6.5.1930) nachweisen lassen.
Mit dem ersten „bunten expressionistischen Abend“ (261. „Sturm-Abend“ am 25.3.1925) gehen die eigentlichen „Sturm-Abende“ in ihre letzte Phase. Sie werden ab September 1925 vom „Sturm-Kabarett“ abgelöst, in dem neben Blümner u.a. Alfred Richard Meyer, Weggefährte Waldens aus den frühen Jahren des Expressionismus, und dessen Frau Resi Langer sowie Otto Nebel und Thomas Ring auftreten. Das Sturm-Kabarett erlebt seine wohl einzige Saison 1925/26. Das Jahr 1925 endet am Silvesterabend mit dem [hochgerechneten] 286. „Sturm-Abend“ – danach werden Zählungsversuche obsolet.

Für 1926/27 noch angekündigt, scheint es zu nachweisbaren Sturm-Kabarett-Abenden nicht mehr gekommen zu sein. Deren Nachfolge treten „Musik-Abende im Sturm“ an, von denen im Oktober und November 1926 sieben nachweisbar und hinsichtlich der auftretenden Künstler und der von ihnen gespielten Werke rekonstruierbar sind, mit durchaus renommierten Künstler*innen der damaligen Zeit. Danach kommt es nur noch vereinzelt zu Abenden in der Regie des „Sturm“ bzw. der Gesellschaft der Sturmfreunde, die mit ihren Einnahmen durch die Sturm-Bälle ein Weiterleben des „Sturm“ ermöglicht.
Die Protagonisten der „Sturm-Abende“ treten immer deutlicher in den Hintergrund: Ein letzter Abend Blümners ist für den 23.3.1927 nachweisbar, Schreyer hält am 15.2.1928 seinen letzten Vortrag im „Sturm“; und ein letzter Auftritt Waldens schließlich ist für den 6.5.1930 nachweisbar.

Zweifellos hat die Gesellschaft der Sturmfreunde auch bei den „Sturm-Abenden“ eine nennenswerte Rolle gespielt; es sind allerdings nur wenige Abende nachweisbar, bei denen sie als Veranstalterin konkret aufgetreten ist. Eine davon, „SOS. The Jazz of Europe. Aktuelles akustisch-optisches Spiel in 2 Teilen (10 Bildern)“ von Jószef Ligeti(7) (29.3.1929), ist die meistbesprochene Veranstaltung der späten „Sturm“-Jahre; eine weitere (bei der nicht einmal gesichert ist, ob sie überhaupt in dieser Form stattgefunden hat) ist die/sind die geschlossene(n) Vorführung(en) des Films „Im Westen nichts Neues“, auf die in der „Weltbühne“ in zwei Ausgaben vom Juli 1931 hingewiesen wird(8).

Die zahlreichen Anmietungen (ihre Zahl ist vermutlich noch höher als hier erfasst) tragen zu einer programmatischen Ausrichtung natürlich nicht mehr bei – sie werden ausschließlich aufgrund der wachsenden finanziellen Notlage des „Sturm“ durchgeführt. Dennoch sind sie auch hier von Interesse, geben sie doch ein Bild davon, was an Kultur- und Bildungsangeboten im Berlin der späten 20er Jahre mit dem „Sturm“ in Verbindung gebracht wurde: Es ist sicher nicht zufällig, dass praktisch alle dieser Veranstaltungen mit dem Label „Sturm“ in der Presse annonciert und auch besprochen wurden.

Auf einige wenige, bei denen es sich wohl um Kooperationsveranstaltungen gehandelt haben dürfte, sei an dieser Stelle hingewiesen; alle drei haben einen dezidiert (gesellschafts-)politischen Impetus: So präsentiert der „Sturm“ die an der Rettungsaktion für die „Italia-Expedition“ der „Nobile“ beteiligten russischen Besatzungsmitglieder des Eisbrechers „Kras(s)in“ (9. bzw. 16.11.1928); beide Termine finden auch international Beachtung. Und wenig später (wohl am 14.12.1928) wird dem kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassenen Arbeiterführer Max Hoelz in den Räumen des „Sturm“ ein Forum geboten, sich und seine autobiographischen Aufzeichnungen zu präsentieren(9). Schließlich sei an dieser Stelle noch auf die „Nachtvorstellung“ anlässlich der 2. Allgemeinen Vagabunden-Kunstausstellung am 8. Mai 1931 hingewiesen, die in einem den damaligen „Sturm“-Räumlichkeiten benachbarten Kino stattfindet und die den Schwanengesang der Veranstaltungsaktivitäten des „Sturm“ bildet.

  1. Ein sicher nachgewiesener letzter Abend des „Verein für Kunst“ (VfK) ist eine Lesung der dänischen Autorin Karin Michaelis am 31. Januar 1912. Ein weiterer für die 8. Saison des VfK nachgewiesener Walden-Abend ist zumindest unsicher; ein Blümner-Abend im März desselben Jahres firmiert nicht unter dem Label „VfK“. ↩︎
  2. Quasi als Nachklapp veranstaltet der VfK in seiner 10. Saison einen Abend mit Gertrude Barrison, die am 19. Februar 1914 in der Tradition früherer Jahre Dichtungen Peter Altenbergs liest. ↩︎
  3. Abgesehen von einigen Beiträgen zur Musik in der Zeitschrift gibt Walden auf den „Sturm-Abenden“ dem tschechischen Komponisten Miroslav Ponc mehrere Male Gelegenheit, seine Musik vorzustellen und sein Konzept von Vierteltonmusik zu erläutern. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre ist dann eine ganze Reihe von Musik-Abenden nachgewiesen (neben der kleinen Zahl der „Musik-Abende im Sturm“); dabei dürfte es sich überwiegend um Anmietungen gehandelt haben. ↩︎
  4. Zu Fritz Windisch vgl. http://www.herbert-henck.de/Internettexte/Windisch_I/windisch_i.html und http://www.herbert-henck.de/Internettexte/Windisch_II/windisch_ii.html ↩︎
  5. Am 11. Mai 1921 hält Prof. Johannes A. Sauter einen Vortrag „Schule und Student in Indien“. ↩︎
  6. Original des Briefs im Deutschen Literaturarchiv Marbach ↩︎
  7. Zu Ligeti vgl. https://hu.wikipedia.org/wiki/Ligeti_J%C3%B3zsef [nur auf Ungarisch] ↩︎
  8. Die Weltbühne Jg. 27 (Bd. 2), Nr. 27 vom 7. Juli 1931, S. 40 sowie Nr. 28 vom 14. Juli 1931, S. 80. – Nach Verbot des Films am 11. Dezember 1930 sind nur noch geschlossene Vorführungen möglich; Vorstellungen für die GdSt haben sich bislang nicht nachweisen lassen. ↩︎
  9. Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem „Klub 1926. Gesellschaft für Politik, Wissenschaft und Kunst“, in dem sich führende Linksintellektuelle der Weimarer Republik versammeln. ↩︎

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